2008-11-07

Sprache verstehen

Ich habe schon lange nicht mehr auf Deutsch geschrieben, und diesmal mache ich es hauptsächlich, um ein wenig Dampf abzulassen - es gibt also wahrscheinlich keine Weisheiten hier...

Wer mal Chinesisch gelernt oder Sinologie studiert hat, wird meist Vokabular, Grammatik, Zeichen usw. gelernt haben wie sie in der VR China üblich sind. Ich mag die "Kurzzeichen" nicht und auch nicht so sehr die Aussprache, aber ich gebe jederzeit zu, daß man sich in der VR China wesentlich mehr und ernsthaftere Gedanken zu Sprache macht als hier in Taiwan.

Schon vor vielen Jahren, als ich als Erstklässler versuchte, mit einem Füller Buchstaben zu Papier zu bringen, die annähernd so gut aussahen wie die in meinem Lehrbuch (Hat nie geklappt, meine Handschrift war, ist und bleibt eine Katatrophe - ein Grund mehr, Computer zu mögen.), lernte ich bereits, daß ich da mit "Lateinbuchstaben" hantierte, nicht mit "deutschen Buchstaben". Daran hatte ich auch nie gezweifelt, denn bei meinen Großeltern hatte ich Bücher in "deutscher Schrift" (Fraktur) gesehen und lesen gelernt. Diese "deutsche Schrift" sah ziemlich merkwürdig aus, mit zwei Varianten für "s", einem "ck" das zusammengeschrieben wurde und einem "A" das eigentlich wie ein "U" aussah.

Aber ich hatte bald den Code geknackt und konnte diese Bücher lesen - und habe dabei gemerkt, wieviel einfacher doch Lateinbuchstaben waren. Und dann waren da ja auch noch diese grünen Armeefahrzeuge mit den merkwürdigen Aufschriften, wo ein "P" angeblich ein "R" sein sollte und ein "C" ein "S". Gut, die hatten auch einige vollkommen fremde Zeichen, mit denen ich erst in der fünften Klasse Bekanntschaft machte - und dabei wieder einmal lernte, daß ich ja eigentlich diese merkwürdigen Zeichen durch Lateinbuchstaben ersetzen konnte, wobei sich die Sprache nicht änderte.

Ich fand damals auch die Hinweistafel unter jedem Fenster eines Zugabteils interessant. Ich verstand nur den einen Satz, wo man darauf hingewiesen wurde, sich nicht hinauszulehnen. Ich kannte zwar alle Zeichen der anderen Sätze, aber "e pericoloso sporgesi" klang dann doch nicht so sehr Deutsch, muß also eine andere Sprache gewesen sein. All das habe ich als selbstverständlich hingenommen, muß aber heute einsehen, daß es für Viele nicht nur nicht selbstverständlich, sondern sogar völlig unverständlich ist.

Wer also mal Chinesisch gelernt hat, wird dabei erst einmal Hanyu Pinyin gelernt haben, denn damit kann man Chinesisch wunderbar in Lateinbuchstaben schreiben - 27 einfache Buchstaben statt tausender komplizierter Bilderchen. Nie habe ich erlebt, daß jemand während dieser Zeit behauptet hätte, dieses "Women qu lüxing" da vorn an der Tafel wäre Deutsch. Selbst nach mehrmaliger Rechtschreibrereform kennt der Duden wohl keines dieser Worte. Genauso hat nie jemand den Satz "Kore wa nihongo desu" angezweifelt, auch wenn er für Deutsche wesentlich vertrauter aussah als "これはにほんごです" oder "これは日本語です". Es war einfach der gleiche Kauderwelsch, in der gleichen Sprache, den man ohne die Sprache gelernt zu haben nicht verstehen konnte - obwohl man ihn mehr oder weniger korrekt ausprechen konnte, sofern dieser Kauderwelsch in "verträglichen" Zeichen vorlag.

Ja, es geht mir um Sprache und Zeichen, bzw. darum, daß beide keine unlösbare Einheit sind. Man muß eigentlich nicht studiert haben, um zu erkennen, daß Sprache und die Schrift, in der sie konserviert wird, keine unlösbare Verbindung eingehen: Lettland, Litauen und andere Länder hatten während ihrer Zeit als Sowjetrepublik kyrillische Zeichen benutzt, heute schreibt man in Lateinbuchstaben. Die Mongolei ist sogar durch diverse Schriften gegangen, hatte mehrere eigene, bekam dann von China Hanzi aufgedrückt und von der Sowjetunion später kyrillische Zeichen, nachdem man ein kurzes Rendezvous mit Lateinbuchstaben hatte. Korea hat, genau wie Vietnam, ursprünglich einmal Hanzi benutzt. Korea entwickelte frühzeitig eine eigene Schrift, Vietnam vertrieb die französischen Besatzer, erkannte aber die Vorteile ihrer Schrift und benutzt heute Lateinbuchstaben.

Korea und Vietnam liegen eigentlich direkt vor der Haustür Taiwans, aber obwohl man aus Korea gern Autos, Handys und Fernseher inklusive Seifenopern importiert und aus Vietnam etliche Haushaltshilfen und Ehefrauen holt, reicht in vielen Belangen der Horizont doch nicht weiter als die 144 mal 394 Kilometer, die Taiwan groß (bzw. klein) ist. An diesem Horizont tauchen in der Ferne ein "Festland", ein verschwommenes Japan und ein "Amerika" auf, mehr nicht.

Lernt man also hier in Taiwan eine Fremdsprache, dann lernt man in den meisten Fällen Englisch. Und da gibt es komische Zeichen, so ganz anders als die schönen chinesischen. Überhaupt, unsere Zeichen heißen gefälligst 中文字, nicht so ein komisches 漢字 wie auf dem "Festland", schließlich benutzen wir diese Zeichen für Chinesisch, also sind es Zeichen der chinesischen Schrift! Und wenn wir schon mal dabei sind, dann benutzen diese Amerikaner also 英文字. Ist doch logisch, das ist eine andere Sprache, das sind andere Zeichen, und wenn die Englisch benutzen, dann sind das halt englische Schriftzeichen! Genauso wie die Deutschen deutsche Schriftzeichen, die Italiener italienische Schriftzeichen und die Franzosen französische Schriftzeichen benutzen.

Ja, genau so wird das hier in Taiwan gehandhabt. Was ich nicht verstehe ist, wieso scheinbar niemand die offensichtlichen Schwachstellen dieser Logik entdeckt. Eine meiner Standardfragen an Taiwanesen in solchen Fällen lautet "Wie liest Du diese beiden Zeichen: 文法? Die Antwort lautet normalerweise "wenfa", die hochchinesische Lesung für diese beiden Zeichen, die für (geschriebene) Grammatik stehen. Meine nächste Frage: Und warum heißt das nicht "bumpo"? So lautet nämlich die japanische Lesung, und genauso werden die beiden Zeichen im Japanischen benutzt. Sind das nun also chinesische oder japanische Zeichen? Oder werden vielleicht doch die gleichen Schriftsysteme in mehreren Sprachen verwendet, und sind womöglich mehrere Schriftsysteme für eine Sprache möglich?

Fragt man einen Taiwanesen, welche Sprache hier auf Taiwan gesprochen wird, dann mag er auch Taiwanesisch erwähnen, meist aber Chinesisch. Nur, wie bezeichnet er diese Sprache? In den meisten Fällen nennt er sie ganz einfach 中文. Die Frage an einen Ausländer, ob er Chinesisch spricht, lautet also 你會不會講中文, und eigentlich muß ich diese Frage verneinen.

Der Grund ist einfach: Ich kann keine Schrift sprechen. Ich kann Sprache sprechen und hören, sowie Schrift lesen und schreiben, aber ich kann halt keine Schrift sprechen - und genau danach wird gefragt. Lustigerweise gibt es zu fast jeder Sprache ein Bezeichnungspaar, immer bestehend aus gesprochener Sprache und Schrift: 日語/日文 für Japanisch, 英語/英文 für Englisch, 德語/德文 für Deutsch usw. Allerdings ist es mit diesen Sprachpaaren so wie mit Arthur Dents Tee auf der "Heart of Gold": Almost tea, but not quite. So existieren diese Paare eben nur für fast alle Sprachen, und jetzt wird es lustig: Es gibt 美語 für amerikanisches Englisch, aber kein 美文 - nach taiwanesischer Auffassung ist die Alphabetisierungsrate in den USA wahrscheinlich nicht sehr hoch. Es gibt 台語 für Taiwanesisch, aber kein 台文. Damit liegt man eigentlich gar nicht so verkehrt, denn: In welchen Zeichen soll diese Sprache nun eigentlich geschrieben werden? Derzeit quälen sich fast alle (zumindest offiziell) mit Hanzi. Aber Zeichen, die primär mit einer Bedeutung daherkommen und eher sekundär mit einer Aussprache eignen sich wohl nicht so gut, um phonetisch die Unterschiede zwischen Taiwanesisch und Hochchinesisch aufzuzeigen. Allerdings hat die Kirche da eine recht brauchbare Schreibweise in Lateinbuchstaben entwickelt.

Jetzt aber der Hammer: Es gibt 中文, aber kein 中語. Jawohl, es gibt hier in Taiwan eigentlich kein Wort für die Sprache, die von fast allen Bewohnern gesprochen und auch als Amtssprache gehandhabt wird. Ist das nicht toll? Natürlich werden jetzt einige Taiwanesen empört aufspringen und mich darauf hinweisen, daß es sehr wohl eine solche Bezeichnung gibt: 國語. Hmm... Und was heißt das bitte genau? Es heißt "Landessprache", und das ist in Frankreich Französisch, in Italien Italienisch... In Japan gibt es Lehrbücher, auf denen steht genau dieses Wort, wenn auch ein Zeichen leicht vereinfacht wurde: 国語. Im zugehörigen Unterricht lernen die Schüler aber kein Chinesisch, sondern Japanisch.

Es gibt also in Taiwan eigentlich kein Wort für die gesprochene Sprache Chinesisch. Gut, nicht ganz: Das Erziehungsministerium hat vor einer Weile 華語 als offizielle Bezeichnung für diese Sprache bekanntgegeben. Benutzt diesen Begriff aber hier an dieser Schule jemand außer mir? Nein. Hat jemand von denen, die hier eigentlich auf sprachlichem Gebiet Experten sein sollen, überhaupt diese Entscheidung bemerkt? Das ist etwas, wovon ich nichts bemerkt habe... Auch wenn ich es nicht mag, daß die ach so friedliebende VR China inzwischen mehrere hundert Mittelstreckenraketen auf mich und die Menschen um mich herum gerichtet hat, so muß ich doch zugeben: Dieses Problem ist kein Problem in der VR. Chinesisch heißt dort einfach 漢語, denn letzten Endes ist es nun einmal die Sprache der Han, die da zum Standard erkoren wurde.

All das ist eigentlich recht einfach, wird von mir verstanden, und sollte erst recht von jemandem mit höheren akademischen Meriten als den meinen verstanden werden. Das scheint aber nicht unbedingt der Fall zu sein. Und nicht nur das, man will es meist nicht einmal hören. Die Begründung dafür könnte durchaus amüsant gesehen werden, wenn es nicht so traurig wäre, daß sie in einem angeblich akademischen Umfeld von angeblich hochgebildeten Leuten gegeben wird: 我們就這樣做。 Wir machen das halt so. Punkt. Aus. Ende der Diskussion. Dabei bedarf es, wie ich oben gezeigt habe, nicht einmal einer akademischen Argumentation, um die Schwachpunkte dieser Sichtweise aufzuzeigen. Leider ist zu diesem Thema wohl weder eine akademische, noch eine anderweitige Diskussion erwünscht. Wir machen das halt so...

Eines der Produkte dieser Sichtweise sind die auf dieser Insel ach so populären "englischen Namen". Dazu muss man aber erst einmal wissen, daß zu diesen "englischen" Namen auch solche Goldstücke wie "Ovid", "Michelle" und "Apollo" gehören. Und man sollte wissen, daß es hier eigentlich gar nicht um einen Namen in englischer Aussprache oder mit Ursprung in Großbritannien oder den USA geht. Mitnichten, denn dieser "englische" Name heißt auf Chinesisch 英文名字. Und wie der aufmerksame Leser vielleicht merkt, ist das "ein Name in englischer Schrift". Und da man hierzulande Schrift und Sprache als eine Einheit ansieht, geht es eigentlich um Namen in Lateinbuchstaben. Sagt man aber nicht so, denn das sind ja "englische Schriftzeichen". Man wird aber z.B. nie den Begriff 英語名字 oder 美語名字 hören - gibt es nicht.

Leider bemerke ich in meinem Umfeld recht häufig, daß man sich wohl nicht allzu oft Gedanken macht, warum etwas getan wird. Diese "englischen" Namen (oder besser: eine Schreibweise in Lateinbuchstaben) z.B. waren nötig, weil die meisten "Ausländer" (von hier aus gesehen) einfach nicht in der Lage sind, Namen wie 大同, 台南 oder 陳升 lesen und aussprechen zu können. Man müßte erst hunderte oder gar tausende von Zeichen lernen, nur um endlich zu wissen, wie denn dieser Ort, dieses Unternehmen oder die Person, die man sprechen möchte, heißt. Dabei könnte man einfach den Klang des Namens in Lateinbuchstaben niederschreiben. Das Problem: Dazu müßte man eine Umschrift beherrschen.

Für Chinesisch gibt es mehrere Umschriften, mit denen Taiwan mehr oder weniger gespielt hat. Ich sage bewußt "gespielt", weil kaum eine dieser Umschriften ernsthaft in der Praxis umgesetzt wurde. Wade/Giles z.B. war und ist in Taiwan recht verbreitet. Dummerweise hatte man aber keine Lust, sich an die Schreibregeln von Wade/Giles zu halten und hat einfach das Apostroph weggelassen, das in der etwas gewöhnungsbedürftigen Umschrift zwischen harten und weichen Konsonanten unterscheidet. Was passiert? Fast alle Ausländer nennen die Hauptstadt "Taipei", obwohl es eigentlich "Taibei" (Hanyu Pinyin) sein müßte. Nach Wade/Giles wäre es eigentlich "T'aipei", aber da man das Apostroph wegließ, konnte kaum ein Ausländer ahnen, daß ein "p" womöglich kein "p" ist. "Tatong" z.B. ist eigentlich "Datong". Nett. Diese Vorgehensweise hat allerdings einen nicht zu verachtenden Nebeneffekt: Einige Taiwanesen können sich endlos über die ach so schräge Aussprache der Ausländer amüsieren. Daß sie selbst die Vorlage für diese Aussprache liefern, merken die wenigsten.

Egal welche Umschrift die gerade aktuelle Regierung also als offiziell bezeichnet, da diese Umschrift weder gelehrt noch gelernt wird und für die meisten Taiwanesen (einschließlich derer, die es aufgrund eines mit Sprache verbundenen Studiums besser wissen sollten) sowieso "Englisch" ist, schreibt jeder so, wie er Lust und Laune hat. Und wenn mal jemand versucht, für nicht Chinesisch sprechende Ausländer die Namen lokaler Lehrkräfte in einer Umschrift darzustellen, die international (außer natürlich auf den 35000km2 Gestein, die mich über Wasser halten) als Standard anerkannt ist, dann gibt es gleich gewaltige Proteste der Form "Das ist mein Name, ich bestimme, wie der geschrieben wird!" Aber sicher. Und ich Holzkopf dachte noch, Sprache wäre zur Verständigung da und es gäbe allgemeine Regeln... Schönes Beispiel: Man sucht jemanden mit dem Familiennamen 許. Mal sehen, was haben wir denn da: Hsu, Hsuh, Hsue, Hsueh, Shue, Shueh... (Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.)

"Englische" Namen sind wirklich toll. Doch. Man kann damit im Dolmetschunterricht Studenten so richtig schön zur Verzweiflung bringen. Diese "englischen" Namen sorgen nämlich inzwischen bei vielen Taiwanesen für die Vorstellung, daß Ausländer mit den hiesigen Namen überhaupt nicht zurechtkämen. (Was ist so schwer an "Tainan" oder "Datong"?) Also braucht ein Unternehmen oder eine Schule einen "richtigen" "englischen" Namen. Phantastisch... Dieser "richtige" "englische" Name hat dann nämlich mit dem originalen Namen überhaupt nichts mehr zu tun und sorgt exakt für das Gegenteil von dem, wozu er ursprünglich gedacht war: Wirrwarr und Unverständnis. Kostprobe gefällig? Kein Problem. Bitte einfach mal den folgenden Satz ins Chinesische übersetzen ohne irgendwo nachzuschlagen (Dazu hat ein Dolmtscher nämlich im Prinzip keine Gelegenheit):

"Have you ever been to Providence University?"

Die korrekte Übersetzung ist hier:

你有沒有去過靜宜大學?

Chaos? Stimmt...

Als ich noch vor ein paar Jahren elektronische Schaltungen entwickelte, haben wir ab und zu bei einem Hersteller für Kondensatoren angerufen, um wieder mal ein paar Probeexemplare abzustauben. Wir haben unheimlich gern bei diesem bestimmten Hersteller angerufen, weil der so einen tollen Namen hatte: 早安. (Zao'an) Das hat sogar mal eine Bedeutung, und zwar "Guten Morgen". Wenn wir da anriefen, meldete sich deren Verkauf immer sehr höflich mit 早安你好 - Guten Morgen, guten Tag. Das allein war den Anruf wert... (Da fällt mir ein: Wir hätten mal irgendwann kurz nach acht Uhr früh anrufen sollen...) Ja, aber wie nannte sich der Betrieb auf Englisch? "Stone"...

Warum ist das ein Problem? Weil viele Leute nur mit einem der beiden Namen zu tun haben. Die meisten Taiwanesen kennen nur den "chinesischen" Namen, die meisten Ausländer (OK, dieser Hersteller eben hat nicht exportiert.) den "englischen". Was passiert also, wenn ein Ausländer versucht, in der Nähe dieses Betriebs einen Taiwanesen nach dem Weg zu diesem Betrieb zu fragen? Der Taiwanese zuckt mit den Schultern, denn von "Stone" hat er nie gehört. Außerdem hat er es eilig, denn er hat versprochen, seine Schwester abzuholen, die bei Zaoan arbeitet...

Für Dolmetscher ist das endlich mal eine Herausforderung: Ich muß zu den 23 Millionen Taiwanesen, allen Unternehmen und auch vielen Schulen jeweils ein Namenspaar auswendig gelernt haben, sonst weiß ich nicht, wie ich diese Person/Institution in der jeweils anderen Sprache bezeichnen soll. Toll... Hat hier vielleicht schon mal jemand davon gehört, welche Funktion ein Name hat? Er soll zwischen verschiedenen Exemplaren der gleichen Kategorie unterscheiden.

Bei Ikea gibt es z.B. diverse Regale. Das sind Rahmen, meist aus Holz, mit eingebauten horizontalen Ablageflächen, auch meist aus Holz. "Regal" nennt man diese Kategorie von Gegenständen auf Deutsch, 架子 (jiazi) oder 櫃子 (guizi) auf Chinesisch. Dieses Wort hat also eine Bedeutung - siehe oben. Nun bietet Ikea mehrere Typen von Regalen an, und ein solcher Typ ist "Billy". Das Wort "Billy" hat hier keine Bedeutung, zumindest beschreibt es nicht in irgendeiner Weise den Gegenstand, dem es zugeordnet wurde. Die Bezeichnung wurde einfach nur zugeordnet, um "Billy" von "Oslo" unterscheiden zu können. Entscheidend ist hierbei der Klang des Namens, nicht irgendeine Bedeutung. Man kann den Namen also nicht übersetzen, sondern ihn nur in einer anderen Schrift niederschreiben, falls ein Sprecher einer anderen Sprache die ursprünglich verwendete Schrift nicht beherrscht. Die Aussprache mag sich etwas ändern, weil nicht jede Schrift erlaubt, mit ihren Zeichen alle Laute aller anderen Sprachen darzustellen, bzw. die Benutzer dieser Schrift in dieser Sprache es gewöhnt sind, ihre Zeichen nur mit bestimmten Lauten zu assoziieren, aber das sind auch alle Probleme, die dabei auftauchen können. Ich habe vor Jahren einmal ein Buch eines tschechischen Japanologen gesehen, in dem er vorschlug, Katakana in verschiedenen Weisen leicht zu modifizieren und jeder dieser Modifikationen einen bestimmten, vom originalen Zeichen leicht verschiedenen Klang zuzuordnen, um somit besser andere Sprachen in Katakana darstellen zu können (Wer Durchschnittsjapaner Englisch sprechen gehört hat, wird wissen, was damit verbessert werden sollte.) - kam bei den Japanern aber nicht so gut an.

Was machen aber unsere Sprachexperten hier? Sie reden wirklich davon, Namen zu übersetzen: 我不知道怎麼翻他的名字. Also, wenn ihr wirklich Namen übersetzen wollt, warum fangt ihr dann nicht einfach beim derzeitigen Präsidenten an? "Pferdeheld Neun" klingt bestimmt gut in der Tagesschau, oder entsprechend "Horse Hero Nine" auf BBC.

Eigentlich gehen die Wurzeln noch tiefer, es geht schon los bei der Frage, was eigentlich ein Zeichen ist. Normalerweise bezeichnet man damit eine optische Erscheinung. Jeder der Buchstaben hier in diesem Text ist ein Zeichen, genauso jedes Komma, jeder Punkt. Eine Zahl ist ein Zeichen. Japanische Hiragana und Katakana sind Zeichen. Und auch Hanzi. Ich möchte sie hier absichtlich nicht "chinesische Schriftzeichen" nennen. Es sind die Zeichen der Han. Das wissen die Menschen in der VR China, wenn sie den Begriff "Hanzi" (Zeichen der Han) benutzen. Das wissen die Japaner, wenn sie den Begriff "Kanji" (gleiche Zeichen, gleiche Bedeutung, unterschiedliche Aussprache) benutzen. Nur für die Taiwanesen sind das normalerweise "chinesische Schriftzeichen" - 中文字. Es kommt aber besser.

Wir verwenden den Begriff "Zeichen" für eine optische Erscheinung, ein Bild, oder etwas wissenschaftlicher: ein Graphem. Es geht uns nicht um Klänge, die mit diesem Zeichen assoziiert sind - das nennen wir Klang oder Phonem, die phonetische, klangliche Komponente. Genausowenig geht es beim Begriff "Zeichen" um Bedeutung, sowas heißt halt Bedeutung oder Semem, die semantische Komponente. Nun haben aber Hanzi im Gegensatz zu Buchstaben dummerweise nicht nur eine phonetische Komponente zugeordnet bekommen, sondern auch noch eine semantische. Und deshalb wird man von vielen Taiwanesen (einschließlich derer, die es besser wissen sollten) auf die Frage, wie man 字 (Zeichen) ins Englische übersetzt, als Antwort "word" bekommen. Eigentlich ist dafür aber 詞 vorgesehen. Eigentlich würde ein einfacher Blick ins 辭海 eine andere Erklärung liefern. (Nämlich die für Zeichen - warum schlagen eigentlich nur Ausländer hier in chinesischsprachigen Wörterbüchern nach?) Eigentlich würde ein einfaches Nachdenken die Fehlerhaftigkeit dieser Ansicht aufzeigen - aber es fällt niemandem auf und wenn man darauf hinweist, bekommt man nur - naja, die übliche Antwort zu hören...

Dabei ist es ganz einfach: 家 - Familie, Heim. Ein Zeichen, ein Wort. 國家 - Staat. Ein Wort, aber... Sehe ich da zwei Zeichen oder muß ich mir eine neue Brille zulegen? Aber selbst diese einfache Logik wird ignoriert. Sie wird nicht einmal widerlegt, denn das sollte schwer möglich sein, sie wird einfach nur ignoriert: Wir machen das aber so!

Und das macht eben umso mehr Spaß, wenn man tagtäglich auf diese Ansichten trifft und nicht einmal etwas zu dem Thema sagen darf - weil man dann nämlich entweder angesehen wird als hätte man grüne Haut, nur ein großes Auge und Antennen auf dem Kopf, oder aber wieder mal als "Störer" gilt, der nur Ärger machen will. Ich muß mich wohl öfter auf Gemüsemärkten herumtreiben und da üben...

Tja, und deshalb macht das alles so einen tollen Spaß... Entschuldigung also, wenn das hier keine großartige wissenschaftliche Abhandlung ist, auch wenn ich einige Verweise eingefügt habe. Diese ganzen Zusammenhänge lassen sich aber im Zweifelsfalle nachlesen/-prüfen, bzw. kann ich auf Verlangen auch nochmal ausführlicher einige Dinge darlegen. Es ging mir aber mit diesem Artikel hauptsächlich um eins: Dampf ablassen. Mein Trost ist, daß ich nicht der einzige Ausländer in einer solchen Lage bin...

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